Religiöse Heiler im medizinischen Pluralismus in Deutschland

Religiöse Heiler im medizinischen Pluralismus in Deutschland

Organisatoren
Institut für Geschichte der Medizin, Robert Bosch Stiftung; Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité Universitätsmedizin; Katholische Akademie "Die Wolfsburg"
Ort
Mühlheim
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.06.2018 - 08.06.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Pierre Pfütsch, Institut für Geschichte der Medizin, Robert Bosch Stiftung

Neben dem Austausch von Vertretern und Vertreterinnen unterschiedlicher Fachrichtungen war es das Ziel dieser interdisziplinären Tagung, größere historische Linien für gegenwärtige Phänomene im alternativmedizinischen Milieu herauszuarbeiten.

MARTIN DINGES (Stuttgart) hob in seinen einleitenden Worten auf das lange Spannungsverhältnis zwischen Religion und Medizin ab, welches sich nicht erst im 19. Jahrhundert etabliert habe, als sich die Medizin zunehmend selbst als naturwissenschaftlich begründet begriff. Ihm zufolge weckte im 20. Jahrhundert die Schulmedizinpublizistik in der Bevölkerung Machbarkeitsversprechungen, die immer wieder Enttäuschungen hervorriefen. Sowohl diese als auch chronische Erkrankungen, psychische Leiden und Behandlungsfehler von Ärzten ließen in der Gesellschaft Fragen entstehen, auf die religiöse Heiler Antworten versprachen. Auch ROBERT JÜTTE (Stuttgart) konzentrierte sich in seinen Ausführungen zur Tradition religiöser und geistiger Heiler in Deutschland, mit kurzen Rückgriffen auf die Frühe Neuzeit, auf das 19. und 20. Jahrhundert und machte deutlich, dass es lange vor der Esoterikwelle der 1970er-Jahre umfangreiche einheimische Traditionen religiösen und geistigen Heilens gab. Jüttes Versuch einer sozialgeschichtlichen Einordnung dieser Praktiken zeigte eindrücklich, wie verbreitet solche in allen Schichten der Gesellschaft waren – und dies sowohl auf Seiten der Anbieter als auch auf Seite der Klienten. So boten zu Beginn des 20. Jahrhunderts beispielsweise Schäfer, Schmiede, Scharfrichter oder auch Hebammen Spruchheilungen an. EHLER VOSS (Siegen) näherte sich dem Gegenstand eher aus einer geistesgeschichtlichen Perspektive, indem er nach den Traditionen moderner westlicher Schamanen fragte und diese vor dem Hintergrund des Mediumismus im Europa des 19. Jahrhunderts betrachtete. Voss zeigte auf, dass der Mediumismus bereits im 19. Jahrhundert als Kontroverse angelegt war, die bis heute in ähnlichen Bahnen verläuft. Den gegenwärtigen Neo-Schamanismus deutete er daher folgerichtig als einen Effekt des 19. Jahrhunderts.

Mit Bruno Gröning, dem Wunderheiler der Nachkriegszeit schlechthin, setzte sich FLORIAN MILDENBERGER (Stuttgart) in einem biographisch-angelegten Vortrag auseinander. Gröning gelang es, mit seiner Theorie vom Heilstrom tausende Menschen in seinen Bann zu ziehen. Mildenbergers These zufolge ist Gröning vor allem als Zeitphänomen zu begreifen, dessen Erfolg neben seinem charismatischen Auftreten und seiner Vermarktung auch in der staatlichen und kirchlichen Schwäche der unmittelbaren Nachkriegszeit zu suchen sei. So konnte Gröning für viele Menschen die Rolle eines neuen Führers in einer Phase der Orientierungslosigkeit besetzen. ANITA CHMIELEWSKIs (Itzehoe) Beitrag zum Heilerwesen in Oberschwaben war an der Schnittstelle von Geschichte und Gegenwart angesiedelt und bildete so einen passenden Übergang zum Heilerwesen im gegenwärtigen Deutschland. Chmielewski berichtete von ihrer ethnographischen Feldforschung in den 1980er-Jahren und konnte dadurch aufzeigen, dass sich das geistige Heilen in einer ländlich geprägten Region auch in der Postmoderne lange als gängige Heilpraktik halten konnte. Als wichtigste Voraussetzung für den Fortbestand des Heilerwesens machte sie die Existenz eines – unter der Oberfläche funktionierenden – Kommunikationssystems innerhalb der Dorfgemeinschaft aus.

Sowohl MICHAEL TEUT (Berlin) als auch FLORIAN JESERICH (Mülheim) und BARBARA STÖCKIGT (Berlin) bezogen sich in ihren Ausführungen auf ein Forschungsprojekt zu religiösen Heilbehandlungen in Deutschland, in dem sowohl qualitative Interviews als auch teilnehmende Beobachtungen durchgeführt wurden. Die längerfristigen Heilerfahrungen der Klienten waren, so Michael Teut, vorwiegend durch allgemeine Formen von Entspannung, Wohlbefinden und positive Emotionen gekennzeichnet. So wurden beispielsweise durch die Heilbehandlung neue Ressourcen aktiviert, die sozialen Beziehungen gestärkt und allgemein die Lebensqualität verbessert. Religiöse Heilbehandlungen stellen demnach eine Möglichkeit für den Klienten dar, sich zu verändern und dadurch positiven Nutzen für seine Gesundheit zu erzielen. Barbara Stöckigt stellte die Heiler-Patient-Beziehung als integralen Bestandteil des Heilerfolges heraus. Die Verbindung sei durch gegenseitigen Respekt, Wertschätzung und Nähe gekennzeichnet. Dieses Fundament ermögliche es dem Heiler, eine transzendente Kraft als Mittler zwischen beiden heraufzubeschwören und diese für die Heilung nutzbar zu machen. Stöckigt führte hier den Terminus der radikalen Körperempathie ein, die es dem Heiler ermögliche, das zu fühlen, was auch der Klient spüre. Dies sei nur durch Transzendenz möglich. Auch Florian Jeserich setzte sich in seinem Beitrag zur Agency der spirituellen Heilung mit der Transzendenz auseinander. Seinen Ausführungen folgend sind es nicht die Heiler und Heilerinnen, die die Heilung an sich ausführen, sondern eine transzendente Handlungsmacht. Anhand eines Fallbeispiels eines Heilers aus Norddeutschland wurde aufgezeigt, dass der Heiler an sich nur als Mittler fungiere.

HARALD WALACH (Posen) und MICHAEL UTSCH (Berlin) befassten sich in ihren Vorträgen mit der komplizierten wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem geistigen Heilen. Walach veranschaulichte anhand verschiedener medizinischer Studien, dass die Datenlage zur Wirkung geistigen Heilens nicht eindeutig ist. Als zentralen Wirkprozess machte Walach den Placebo-Effekt aus und schloss daraus, dass der Glaube das zentrale Moment hinsichtlich der Wirkmächtigkeit solcher Heilpraktiken sei. Michael Utsch konzentrierte sich in seinem Beitrag auf gegenwärtige Entwicklungen innerhalb der Psychotherapie. Das 1999 in Kraft getretene Psychotherapiegesetz, welches nur zwei Richtlinienverfahren als anerkannt zulässt, habe seiner Ansicht nach dazu geführt, dass sich in Deutschland ein großer Markt an alternativen Therapie-, Coaching- und Beratungsangeboten etablieren konnte. Allerdings sei gegenwärtig eine Trendwende in der Psychotherapie auszumachen, da die kontemplativen Neurowissenschaften mehr und mehr Fuß fassten und alternative Heilpraktiken innerhalb des Faches Psychotherapie diskutiert würden.

BARBARA WOLF-BRAUN (Frankfurt am Main) diskutierte in ihrem Beitrag die ethischen Aspekte des geistigen Heilens. Dafür adaptierte sie das Modell der Prinzipienethik von Beauchamp und Childress, welches auf den Kriterien Achtung der Patientenautonomie, Fürsorge, Nicht-Schaden und Gerechtigkeit beruht. In ihrem Fazit kam sie zu dem Schluss, das zum einen letztendlich der Patient zu entscheiden habe, was als Behandlungserfolg gelte und zum anderen, dass nur Personen versuchen dürften zu heilen, die die Wirksamkeit ihrer Maßnahmen realistisch einschätzen können, aber auch ihre eigenen Grenzen kennen.

Einen interessanten Einblick in die Praxis des geistigen Heilens bot der Vortrag von WOLFGANG MALY (Bochum). Maly, der Begründer der Maly-Meditation, stellte diese auf Gebeten und Meditation beruhende Heilpraxis vor. In seinen Ausführungen spiegelten sich die Ergebnisse der anderen Referenten aus praktischer Perspektive eindrucksvoll wider. So wies beispielsweise auch er auf die Wichtigkeit der Heiler-Klient-Beziehung hin und deutete wiederholt an, wie wichtig der positive Glaube des Klienten für den Heilerfolg sei.

Insgesamt betrachtet konnte die Tagung die Erwartungen mehr als erfüllen. Es gelang den Organisatoren sehr gut, eine sinnvolle interdisziplinäre Mischung von Vorträgen zusammenzustellen, die zwar viele unterschiedliche Aspekte des geistigen Heilens in Deutschland abdeckten, aber dennoch alle sinnvoll aufeinander bezogen werden konnten. Allein eine etwas stärkere Zusammenbindung der Ergebnisse in der Abschlussdiskussion hätte den Ertrag der Tagung noch weiter herausstellen können. Eine weitere historische und kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik sollte unter Umständen auch eine Schärfung bzw. Reflexion der verwendeten Begriffe beinhalten. So wurde bspw. nicht immer klar, warum von „religiösen“, „geistigen“ oder auch „spirituellen“ Heilen gesprochen wurde. Dies zeigt aber letztendlich nur, dass hier noch weiterer Forschungsbedarf besteht.

Konferenzübersicht:

Martin Dinges (Stuttgart) / Michael Teut (Berlin): Begrüßung

Robert Jütte (Stuttgart): Die lange Tradition religiöser Laienheiler in Deutschland

Ehler Voss (Siegen): Die Tradition moderner westlicher Schamanen

Florian Jeserich (Mülheim): Wer heilt? Agency in der spirituellen Heilung

Michael Teut (Berlin): Religiöse Heilbehandlungen – Wirkkonzepte und subjektive Therapieerfahrungen

Harald Walach (Posen / Witten): Stand der Forschung, Evidenz und Wirkmodelle, aus wissenschaftlicher Sicht

Barbara Stöckigt (Berlin): Das Heiler-Patienten-Verhältnis

Wolfgang Maly (Bochum): Die Maly Meditation – Praxis und Wissenschaft

Florian Mildenberger (Stuttgart): Im Gewand des Geistlichen. Bruno Gröning als Ersatz-Priester

Anita Chmielewski (Itzehoe): Heilerwesen in Oberschwaben. „Es läutet zur Leich, was ich greif das weich…“

Barbara Wolf-Braun (Frankfurt am Main): Selbstverständnis geistiger Heiler in Deutschland.

Michael Utsch (Berlin): Spiritualität in der Psychotherapie – aktuelle wissenschaftliche und berufspolitische Kontroversen